Die falsche Entstehungsgeschichte des Feminismus: Der Kampf um das Wahlrecht

Die Ursprungsgeschichte des Feminismus über das Wahlrecht ist voller Ungenauigkeiten und offener Mythen.
Nach allgemeiner Auffassung haben die Frauen vor über hundert Jahren lange und hart für ihre Rechte gekämpft, insbesondere für das Wahlrecht,

 das ihnen nach dem Ersten Weltkrieg gewährt wurde. Um dieses Recht zu erlangen, so der Mythos, mussten sie gegen die weit verbreitete frauenfeindliche Verachtung durch privilegierte Männer ankämpfen.
Der Kampf um das Wahlrecht als Ursprungsgeschichte des Feminismus verkörpert somit die Rechtschaffenheit der Bewegung und die eklatante Ungerechtigkeit patriarchalischer Gesellschaften.

Ein Blick auf die Geschichte der Erweiterung des Wahlrechts zeigt jedoch, dass sowohl die Bösewichte als auch die Heldinnen dieser Geschichte falsche Konstrukte sind, die dazu dienen, die Wut auf die Männer und den Glauben an die heroische Legitimität des Feminismus zu schüren.

Es stimmt, dass einige Männer (und auch eine beträchtliche Anzahl von Frauen) nicht glaubten, dass Frauen auf nationaler Ebene wählen sollten, und einige ihrer Argumente klingen aus heutiger Sicht herablassend. So wurde beispielsweise argumentiert, dass die meisten Frauen nicht einmal ansatzweise über nationale und internationale Angelegenheiten Bescheid wüssten und auch nicht über die ruhige praktische Geistesgegenwart verfügten, die für einen verantwortungsbewussten Wähler notwendig sei. Ein Anti-Suffragist, eine Frau, behauptete: „Der Punkt der hysterischen Emotion und Unvernunft ist bei Frauen immer näher.“ (Mrs. Frederic Harrison, Anti-Suffragisten, zitiert in Harrison, 80).

Einige Gegner des Wahlrechts befürchteten, dass das seit langem anerkannte soziale Mitgefühl der Frauen sie dazu verleiten würde, für eine Politik zu stimmen, die den Umfang des Staates massiv ausweiten und sowohl die Staatsverschuldung als auch die wichtigtuerische Einmischung der Behörden in das Privatleben der Bürger erhöhen würde. Andere vertraten die Ansicht, dass die Frauen, die die Wahlrechtskampagne anführten, vor allem durch ihre Feindseligkeit gegenüber Männern motiviert waren und dass die ganze Kontroverse um das Wahlrecht darauf abzielte, einen Keil zwischen die Geschlechter zu treiben. Sie lagen mit ihrer Einschätzung kaum falsch, und viele Frauen waren über die Folgen des Frauenwahlrechts so besorgt, dass sie Anti-Wahlrechtsvereine mit vielen aktiven Mitgliedern gründeten.

Anti-Wahlrechtskarikaturen

Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass der Widerstand gegen das Frauenwahlrecht nicht auf Abneigung gegen Frauen oder Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Wohlergehen beruhte – ganz im Gegenteil. Während die Frauenrechtlerinnen in ihrer äußerst negativen Einschätzung der Männer übereinstimmten, waren die Wahlrechtsgegner nicht generell frauenfeindlich, und viele von denen, die gegen das Frauenwahlrecht kämpften, setzten sich für die Gesundheit der Frauen, ihre Rechte in der Ehe und ihren Zugang zu höherer Bildung ein. Die Opposition gegen das Frauenwahlrecht beruhte im Allgemeinen nicht auf Frauenfeindlichkeit, sondern auf einer bestimmten Vorstellung vom gesellschaftlichen Wohl.
Ein nützliches Kompendium der Ansichten der Frauenrechtsgegnerinnen findet sich in Brian Harrisons Buch Separate Spheres: The Opposition to Women’s Suffrage in Britain. Diese historische Analyse konzentriert sich zwar auf Großbritannien, enthält aber auch Hinweise auf die Wahlrechtsdebatten in Australien, die auch in Kanada und den Vereinigten Staaten geführt wurden. [Übersetzer: Eine ausführliche Argumentation in Deutschland wurde 1916 von Dr. Ludwig Langemann und Dr. Helene Hummel verfasst. Einleitend wird dort festgestellt: „Wer ein Verständnis gewinnen will für das Wesen und den Charakter der heutigen radikalen Frauenbewegung und insbesondere der Frauenstimmrechtsbewegung, der muß sich vor allem über drei Dinge klar werden: daß beide Bewegungen internationaler Herkunft sind…“] Harrisons Buch wurde 1978 veröffentlicht, zu einer Zeit, als es gerade noch möglich war, mit einigen sehr vorsichtigen Absicherungen und viel pro-feministischem Protest einen fairen Überblick über die Anti-Wahlrechtsposition zu schreiben. Viele der hier wiedergegebenen Zitate stammen von Harrison, und der Schwerpunkt liegt auf Großbritannien.
Bevor wir uns den Ansichten der Gegner des Frauenwahlrechts zuwenden, sollte man bedenken, dass das Wahlrecht mit großer Wahrscheinlichkeit auch ohne die massiven Darbietungen weiblicher Wut und verletzter Selbstliebe, die die Wahlrechtsaktivisten, insbesondere die militanten Suffragetten, der englischsprachigen Welt präsentierten, mit der Zeit auf Frauen ausgeweitet worden wäre.
Das 19. Jahrhundert war eine Zeit umfassender demokratischer Reformen, in der in Großbritannien eine Reihe von parlamentarischen Änderungen vorgenommen wurden, durch die das ursprünglich nur den Männern der Oberschicht vorbehaltene Wahlrecht schrittweise erweitert wurde. Bis ins späte neunzehnte Jahrhundert hatte die große Mehrheit der britischen Männer kein Wahlrecht, und es ist schwer vorstellbar, dass das Wahlrecht im Zuge der Ausweitung der Demokratie nicht auch den Frauen zugestanden worden wäre. Die Tatsache, dass Feministinnen damals wie heute fast nie die Präsenz von Männern ohne Wahlrecht (in Großbritannien und anderswo) anerkennen, sollte allein schon ihre Mythenbildung völlig entkräften.
Kurz gesagt: Das Wahlrecht wurde erstmals 1832, dann erneut 1867 und 1884 erweitert. Mit dem Reformgesetz von 1832 erhielt etwa jeder sechste erwachsene Mann, der Eigentum besaß, das Wahlrecht. Mit dem Gesetz von 1867 wurde das Wahlrecht auf Männer aus der Arbeiterklasse in städtischen Gebieten ausgedehnt, und mit dem Gesetz von 1884 erhielten auch Männer der ländlichen Arbeiterklasse das Wahlrecht. In allen Fällen schränkten Einkommens- und Vermögensvoraussetzungen die Ausweitung des Wahlrechts ein, so dass in der Zeit nach 1884 und bis zum Ersten Weltkrieg, also genau zu der Zeit, als die Feministinnen ihre wütendsten Forderungen stellten, immer noch etwa 40 % der britischen Männer kein Wahlrecht besaßen.
Das Argument gegen die Ausweitung des Wahlrechts auf Frauen beruhte zumeist auf der Annahme, dass Frauen im Allgemeinen vom Temperament her weniger für die Politik geeignet seien.

In einer Zeit, in der die meisten Frauen im häuslichen Bereich beschäftigt waren, oft schwanger waren, sich um Kinder kümmerten und einen komplexen Haushalt führten, wurde bezweifelt, dass Frauen die Fähigkeit besaßen, Politik zu verstehen oder sich überhaupt dafür zu interessieren. Eine Anti-Suffragistin bemerkte über die Frauen in ihrem Bezirk, dass „viele … einfach von einem Tag auf den anderen weitermachen, ohne sich am Leben außerhalb zu beteiligen, ohne sich auch nur im Geringsten für irgendeine öffentliche Frage zu interessieren.“

Eine solche Annahme irritierte zwar die Wahlrechtsaktivisten[1] (bei denen es sich zumeist um ehrgeizige, intellektuelle Frauen der Oberschicht handelte), war aber kein Zeichen mangelnder Wertschätzung für das, was Frauen als Mütter, Helferinnen, Erzieherinnen, Schriftstellerinnen, Heilerinnen, Pflegerinnen oder Aktivistinnen in der Gesellschaft leisteten. Frauen hatten sich schon immer an Kommunalwahlen und Wohltätigkeitsveranstaltungen beteiligt und wurden dazu ermutigt, dies zu tun.

Aber im Allgemeinen glaubten die Gegner des allgemeinen Wahlrechts[2], dass Frauen und Männer am glücklichsten waren und die Gesellschaft am besten funktionierte, wenn es eine komplementäre Arbeitsteilung gab, bei der sich die Frauen hauptsächlich auf die Hausarbeit konzentrierten, während die Männer in der großen Welt agierten. Der Historiker Brian Harrison fasst zusammen: „Die Unsicherheit des Lebens, das Fehlen von Wohlfahrtseinrichtungen, die Häufigkeit der Geburten, die Komplexität der Haushaltsführung, die zentrale Bedeutung der Hauswirtschaft im wahrsten Sinne des Wortes – all das waren Faktoren, die Ehemänner und Ehefrauen in gegenseitige Abhängigkeit zwangen“ (Harrison, 68).

Nach Ansicht der Gegner des allgemeinen Wahlrechts war es einfach nicht wahr, dass Frauen ohne das nationale Wahlrecht keine politische Vertretung hatten. Im Gegenteil: Die Interessen der Frauen wurden von den Männern in ihren Familien und von männlichen Politikern energisch vertreten. James Bryce, Mitglied der Liberalen Partei und britischer Botschafter in Washington, behauptete: „Es gibt keine haltlosere Annahme als die, dass die Wahlkabine die Hauptquelle des Einflusses in der Politik ist. Frauen haben bereits auf andere Weise, sowohl öffentlich als auch privat, einen größeren Einfluss, als das Wahlrecht ihnen geben würde“ (zitiert in Harrison 81). 

Einige argumentierten, dass Frauen gerade deshalb mehr Einfluss hätten, weil sie nicht an Parteiloyalität gebunden seien und ihr Engagement daher als überparteilich angesehen werde.
Die Themen, zu denen Frauen im gesamten neunzehnten Jahrhundert Reformen anstrebten – darunter die Hochschulbildung für Frauen, Änderungen des Scheidungsrechts und des Sorgerechts für Kinder, die Eigentumsrechte von Frauen und die Volljährigkeit – wurden von einem ausschließlich männlichen Parlament schnell umgesetzt. Harrison stellt fest: „Es ist schwierig, sich Reformen vorzustellen, für die sich die spätviktorianischen Frauen energisch einsetzten und die ihnen nicht gewährt wurden“ (73).

Die so genannte „getrennte Sphäre“ wurde von den Frauenfeinden als diejenige Lösung propagiert, die am ehesten das Wohlergehen der Frauen fördert.

Die Gegner des Frauenwahlrechts  waren der Ansicht, dass die Politik letztlich eine Sache der Männer sei und auch bleiben solle, weil der Stimmzettel ein meta-phorischer Ersatz für die Fähigkeit und das Erfordernis sei, notfalls physische Gewalt anzuwenden, wenn die Politik versage; die Ausdehnung des Stimmrechts auf diejenigen, die nicht verpflichtet oder 

in der Lage seien zu kämpfen, bedeute, eine Falschheit in das politische System einzuführen, die letztlich jede Nation schwächen würde, die sie einführe.
Wenn sie sich irrten, dann nicht, weil sie die Frauen hassten. Einige von ihnen verehrten im Gegenteil die Frauen und wollten sie vor den zersetzenden Auswirkungen des öffentlichen Lebens schützen.
Wie wir wissen, haben sich solche Argumente nicht durchgesetzt.
Ebenso wenig wie die wütenden Demonstrationen der Befürworter des Wahlrechts, die bei der Mehrheit der Öffentlichkeit nie auf Gegenliebe stießen und die Gewährung des Wahlrechts möglicherweise sogar verzögerten, weil sie die hysterische Vehemenz vieler, insbesondere der Suffragetten, die Fensterscheiben einwarfen, Bomben zündeten und Parlamentarier und Polizisten tätlich angriffen, deutlich machten.

Die Feministin Wilma Meikle vertrat in ihrem 1917 erschienenen Buch Towards a Sane Feminism die Ansicht, dass ein Großteil der feministischen Agitation der Vorkriegszeit von wenig mehr als der Gier nach öffentlicher Berühmtheit und sinnloser Wut inspiriert war. „Solange noch Zeit für Reue ist, sollten wir demütig und unter Tränen bekennen, dass alles, was von den Feministinnen der Vorkriegszeit 

gemacht und zunichte gemacht wurde, nichts anderes war als eine ungeheure Welle wilder, weiblicher Zügellosigkeit“ (14).
Ironischerweise war es der Erste Weltkrieg, der die Frage des Wahlrechts entschied. Der Dienst der Frauen an der Heimatfront – ihre Arbeit in den Munitionsfabriken und auf den Bauernhöfen – änderte die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber den Frauen, und 1917 stimmte das britische Parlament problemlos für die Ausweitung des Wahlrechts auf Soldaten, die zuvor nicht wahlberechtigt waren, und auf Frauen ab 30 Jahren.

Der Krieg hätte das Argument der Frauenrechtsgegner bestätigen können, dass physische Gewalt immer noch ein Faktor im Weltgeschehen ist und dass Frauen, die nicht kämpfen können, nicht in der Lage sein sollten, nationale Entscheidungen zu treffen. Aber das tat er nicht.
Das Frauenwahlrecht wurde also auf dem Rücken von Hunderttausenden von Männern errungen, die in den Schützengräben Europas starben.
Feministische Aktivistinnen wie Emmeline Pankhurst und ihre Töchter, die heute als die großen Heldinnen des edlen Wahlrechtskampfes gelten, trugen wenig oder gar nichts zum Sieg bei.
Und obwohl es heute schwierig ist, sich eine Welt ohne Frauen vorzustellen, die an nationalen Wahlen teilnehmen, ist es mindestens genauso schwierig, die Bedenken der Frauenrechtlerinnen rundweg abzutun.
Eine weibliche Wählerschaft hat dazu geführt, dass die Politik zunehmend auf Emotionen basiert, wobei eine ständig wachsende staatliche Bürokratie weitgehend auf die sozialen Sorgen, Ängste und die leicht auszulösende Empörung der Frauen eingeht.

Hundert Jahre nach Einführung des Wahlrechts für Frauen haben Unter-suchungen wiederholt ergeben, dass Männer weitaus mehr Wissen über und Interesse an politischen Angelegenheiten bekunden. In einem Artikel aus dem Jahr 2019 über die Kluft zwischen den Geschlechtern in Großbritannien wurde berichtet,

dass bei den 15-Jährigen ein Unterschied von 20 Prozentpunkten und bei den 25-Jährigen ein Unterschied von 30 Prozentpunkten in Bezug auf das geäußerte politische Interesse besteht.
Eine Umfrage von Pew Research unter Amerikanern ergab, dass Frauen Zeitungen vor allem wegen „Wetter, Gesundheit und Sicherheit, Naturkatastrophen und Boulevardnachrichten“ konsultieren. Männer interessierten sich mehr für „internationale Angelegenheiten, Nachrichten aus Washington und Sport“. Einem anderen Bericht zufolge, in dem die Zeitungen dafür kritisiert werden, dass sie keine weiblichen Leser anziehen, bevorzugen Frauen eher lokale Geschichten, verständliche Grafiken und eine fesselnde Erzählung als faktenbasierte Nachrichten. Die Stereotypen, gegen die die Wahlrechtsaktivisten wetterten, haben sich größtenteils als wahr erwiesen.
Das Interessanteste an den Debatten über das Frauenwahlrecht ist vielleicht, dass sie zu einer Zeit stattfanden, als es noch möglich war, darüber zu diskutieren, was das Beste für die Gesellschaft ist, und zwar aus einer Perspektive, die alle einschließt: Männer, Frauen und Kinder – nicht nur Frauen. Letztendlich hat Frauenwahlrecht unter anderem dazu geführt, dass es fast unmöglich wurde, über ein anderes „Gut“ als ein feministisches zu sprechen.

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[1] Hier zeigt sich die Verbiegung der Gendersprachideologie: DeepL übersetzte „suffrage activists“ mit „Wahlrechtsaktivistinnen“!

[2] Auch hier: im Original heißt es: „anti-suffragists“

© Janice Fiamengo 2015-2023, alle Rechte vorbehalten, insbesondere aber nicht nur die des deutschen Urheberrechts. Vervielfältigung dieser Übersetzung nur nach Rücksprache mit mir (Tom Todd) oder der Autorin (Email an Janice Fiamengo) unter Nennung der Quelle („Erschienen zuerst auf Geschlechterwelten.de“).
Übersetzung © tom todd

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