Waren Marx und Engels Feministen?

In einem der grundlegenden Werke des Sozialismus des 19. Jahrhunderts wurde die marxistische Analyse der Arbeiter im Kapitalismus auf die Stellung der Frau in der Familie angewandt – mit nachhaltigem Einfluss auf die feministische Ideologie.
In ihrem Buch über die Geschichte der Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts stellt die Feministin Susan Kingsley Kent fest, dass „die Feministinnen in ihrem Diskurs über die Ehe Begriffe und Konzepte aus den Diskussionen über die politische Ökonomie des viktorianischen Englands entliehen“ (Susan Kingsley Kent, Sex and Suffragan in Britain, 1860-1914, S. 85).

Obwohl Kent nicht angibt, woher diese Anleihen stammen, war die ökonomische Sprache der Feministinnen oft stark den kommunistischen Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels geschuldet, insbesondere Engels‘ Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates[i], das 1884 erstmals auf Deutsch veröffentlicht wurde und auf Manuskripten von Marx basierte, die Engels nach dem Tod von Marx 1883 unter den Papieren seines Freundes entdeckt hatte.
Engels‘ Buch, das einen historischen Überblick über die verschiedenen Arten von Familien- und Clanbildungen gab, galt als Pionierwerk der Anthropologie und wurde angeblich von Wladimir Lenin, dem ersten Führer der Sowjetunion, als „eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus“ bezeichnet.

Engels‘ Buch wurde erst 1902 ins Englische übersetzt, aber schon vorher zirkulierten seine allgemeinen Ideen in der gesamten Anglosphäre und fanden unter den Feministinnen ein aufgeschlossenes Publikum, insbesondere in ihrer vehementen Anprangerung der Sklaverei in der Ehe.

Friedrich Engels (1820-1895)

Als die Frauenrechtlerin Christabel Pankhurst 1913 schrieb: „Diejenigen, die Frauen als Sklaven haben wollen, wollen natürlich nicht, dass Frauen Wähler werden“, und auch: „Die Gegner des Frauenwahlrechts wissen, dass Frauen, wenn sie politisch frei und wirtschaftlich stark sind, nicht für den niederen Gebrauch des Lasters käuflich sein werden“ (in „The Great Scourge and How to End It“, aus Suffrage and the Pankhursts, S. 189), gab sie mit ziemlicher Sicherheit Engels‘ wiederholte Behauptungen über die „sexuelle Versklavung“ von Frauen wieder.
In seiner Darstellung der Entwicklung der modernen Familie behauptete Engels, dass Frauen in früheren matriarchalischen Gesellschaften einst eine mächtige und geachtete Rolle innehatten, dass ihre Macht jedoch im Kapitalismus geschmälert worden sei. Er forderte die Befreiung der Frauen von ihrer wirtschaftlichen Unterordnung, um eine neue Ära der sexuellen Freiheit einzuleiten.
In den Jahrzehnten unmittelbar nach der Veröffentlichung des Buches – und bis heute – griffen Feministinnen die Idee der weiblichen „sexuellen Sklaverei“ mit denselben aufrührerischen Begriffen auf, wie sie von Marx und Engels entwickelt wurden. Eine vollständige Geschichte des marxistischen Einflusses auf die feministische Ideologie würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, aber einige Beispiele sollen seine Auswirkungen verdeutlichen. Spätere Aufsätze in dieser Reihe werden das Thema weiter verfolgen.

Die britische Schriftstellerin und Essayistin Mona Caird (1854-1932) aus dem neunzehnten Jahrhundert gilt heute als radikale Theoretikerin der weiblichen sexuellen Emanzipation. Da sie fließend Deutsch sprach und eifrig Bücher über Frauen las, kannte sie mit ziemlicher Sicherheit Engels‘ Werk.
Im Sommer 1888, vier Jahre nach der Veröffentlichung von Engels‘ Buch, erlangte Caird Berühmtheit, als sie in der Westminster Review, einer britischen Zeitschrift für politische und soziale Kommentare, einen verurteilenden Aufsatz über die „Ehe“ veröffentlichte.

In diesem Aufsatz, der später in Cairds Buch The Morality of Marriage (1897) abgedruckt wurde, behauptete sie, die Ehe sei nichts anderes als „sexuelle Sklaverei“ für Frauen, durch die „Jahr für Jahr Frauen an Körper und Seele ruiniert werden“ (The Morality of Marriage, S. 87). Erst wenn die Ehe zu einem einfachen, nach Belieben auflösbaren Vertrag würde, wären die Frauen von ihrer Erniedrigung befreit.

Wie Engels vertrat auch Caird die Auffassung, dass die Heiratsbräuche historisch bedingt und nicht natürlich seien und daher geändert werden könnten. Sie führte Beispiele für die angebliche Macht der Frauen in früheren Gesellschaften an, etwa bei den Etruskern, und brachte die moderne Form der Ehe mit dem Aufstieg des Kapitalismus in Verbindung, durch den Frauen zu männlichem „Eigentum“ wurden (S. 72).
In der modernen Ehe, so argumentierte sie, sei die Frau lediglich „die Schinderin und Gebärerin des Mannes“ und werde wie Vieh „gekauft und verkauft“ (S. 83).

Caird verglich auch die Ehe mit Prostitution und bezeichnete Prostituierte als „verachtete Frauen, die von den beiden Alternativen, die ihnen die Gesellschaft bietet, die Erniedrigung außerhalb der Ehe der etwas anderen und eher gebilligten Form der Erniedrigung innerhalb der Ehe vorziehen“ (S. 83). Sie behauptete, dass „harte Arbeit ohne die ihr zustehende Belohnung der Unabhängigkeit (…) die Definition von Sklaverei“ sei (S. 84), und definierte Frauen als eine besonders entwürdigte Art von Sklaven.

Ein flüchtiger Blick in Engels‘ Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates zeigt das Ausmaß feministischer rhetorischer Anleihen bezüglich der Versklavung der Frau in der Ehe. In seinem Kapitel über „Die Familie“ verknüpfte Engels die Stellung der Frau in der bürgerlichen Ehe konsequent mit der Stellung der unterdrückten Arbeiter im Kapitalismus und behauptete: “ Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offene oder verhüllte Haussklaverei der Frau […]“, und er präzisierte: “ Er[der Mann] ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat.“ (Der Ursprung der Familie, S. 62).

Wie es im feministischen Diskurs üblich werden sollte, verglich Engels die bürgerliche Ehefrau mit einer Prostituierten und argumentierte, dass die Ehefrau in einer schlimmeren Lage sei als eine Prostituierte, weil ihre Unterwerfung noch totaler sei, da die Ehefrau “ sich von der gewöhnlichen Kourtisane nur dadurch unterscheidet, daß sie ihren Leib nicht als Lohnarbeiterin zur Stückarbeit vermiethet, sondern ihn ein für allemal in die Sklaverei verkauft. “ (S. 59).
Zu anderen Zeiten zog Engels die Sprache der Sklaverei der Sprache der Prostitution vor. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus behauptete er: „die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung.“ (S. 42).
Wie die Feministinnen, mit denen er gemeinsam einen Fundus an Bildern und Ideen über die Unterdrückung der Frau schuf, zog Engels nicht einen Moment lang in Betracht, dass es humane Gründe wie wirtschaftliche Sicherheit, häusliche Stabilität, dauerhafte Kameradschaft und vor allem die Schaffung eines Heims für die Kindererziehung geben könnte, die die Ehe zu einem ehrenwerten Arrangement machten, das sich von der Prostitution völlig unterschied. Für Engels war die einzige Rechtfertigung für eine Paarbeziehung das, was er „Geschlechtsliebe“ nannte, und er forderte die vollständige wirtschaftliche Emanzipation der Frauen, damit die Geschlechtsliebe ohne Scham und ohne verbindliche Verpflichtungen ausgeübt werden konnte.
Er vertrat die Ansicht, dass es falsch sei, in einer Ehe zu bleiben, wenn die Geschlechtsliebe verblasst ist, und prophezeite eine befreite Zukunft, in der Paare ihre sexuellen Verbindungen in glücklicher Freiheit bilden und neu gestalten können. Denn, wie er sagte: „… ein positives Aufhören der Zuneigung, oder ihre Verdrängung durch eine neue leidenschaftliche Liebe, macht die Scheidung für beide Theile wie für die Gesellschaft zur Wohlthat. Nur wird man den Leuten ersparen, durch den nutzlosen Schmutz eines Scheidungsprozesses zu waten. “ (S. 72).
Er berücksichtigte natürlich nicht die Auswirkungen solcher leichtsinnigen Trennungen auf die Kinder, denn in seiner utopischen Theorie würden die Kinder von der Gemeinschaft als Ganzes und nicht von ihren Eltern erzogen und wären daher kaum von den wechselnden sexuellen Arrangements ihrer Eltern betroffen.
Engels‘ Position zu Frauen in der Ehe wurde in erster Linie von der anthropologischen Analyse eines fortschrittlichen amerikanischen Gelehrten namens Lewis Henry Morgan[ii] (1818-1881) beeinflusst, der ausführlich über die soziale Organisation und die Familienbeziehungen der Irokesen in Nordamerika schrieb.
Im Jahr 1877 hatte Morgan ein auf seinen Studien basierendes Buch mit dem Titel Ancient Society, or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization (Die antike Gesellschaft oder Forschungen über den menschlichen Fortschritt von der Wildheit über die Barbarei bis zur Zivilisation) veröffentlicht. Morgan zufolge vollzog sich die soziale Entwicklung des Menschen in verschiedenen Stadien, von der Jäger- und Sammlergesellschaft über die sesshafte Landwirtschaft bis hin zur städtischen Zivilisation. In diesen Stadien wurden die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in den Familien durch unterschiedliche soziale Regeln geregelt.

Morgan zufolge waren die Urgesellschaften der Antike matriarchalisch und relativ egalitär und auch sexuell freier. Doch der Wandel zur Agrargesellschaft führte dazu, dass die Männer ihre Macht durch den Erhalt des landwirtschaftlichen Überschusses zu sichern suchten, und die Frauen waren gezwungen, mehr Kinder zu gebären, um das Land zu bearbeiten. Als sich dann die Produktion in komplexeren Gesellschaften aus dem Haus verlagerte, verloren die Frauen ihre zentrale Stellung in der Haushaltsökonomie. Die dominante Macht der Männer setzte sich durch, und die Frauen wurden zur Schufterei degradiert.
Die von Engels und Feministinnen wie Mona Caird Ende des 19. Jahrhunderts vorgeschlagene Lösung für die Unterdrückung schien relativ einfach zu sein: wirtschaftliche Möglichkeiten für Frauen und Unabhängigkeit von männlichen Ansprüchen durch leicht zu erreichende Scheidungen und die gesetzliche Vormundschaft der Mütter über die Kinder.
Vom späten 19ten Jahrhundert bis einschließlich der Gegenwart war ein Großteil der femi-nistischen Diskussion mit der Forderung nach wirtschaftlicher und sexueller Ermächtigung der Frau befasst – eine Forderung, die durch eine reichhaltige Wohlfahrtspolitik und jahrzehntelange Bevorzugung bei der Einstellung von Arbeitskräften noch immer nicht befriedigt wurde, während die tatsächlichen Wünsche gewöhnlicher Frauen und Männer und die Bedürfnisse von Kindern nach wie vor weitgehend ignoriert werden. Metaphern der Erniedrigung innerhalb der Familie bilden nach wie vor ein zentraler Bestandteil feministischer Schriften.

1963 verbarg eine professionelle kommunistische Propagandistin namens Betty Friedan (1921-2006) die Realität ihrer langjährigen Schriftstellerkarriere und ihre marxistische Verbindungen, um sich als gewöhnliche amerikanische Hausfrau darzustellen, die nach Jahren des stillen Leidens ihre und der anderen Vorstadtsklavinnen Sehnsucht nach Selbstverwirklichung gestand. Ihr Buch war The Feminine Mystique (Der Weiblichkeitswahn), das heute als Ausgangspunkt der Frauenbewegung der 1960er Jahre gilt.

Betty Friedan (1921-2006)

Darin beklagte Friedan, dass sich die Frauen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft trotz der vielen Möglichkeiten, die ihnen technisch zur Verfügung standen, fälschlicherweise dafür entschieden hatten, „ihre Individualität gegen Sicherheit einzutauschen“ (S. 240) und sich bewusst für das entschieden, „was ihre Großmutter in vielen Fällen als blindes Schicksal und ihre Mutter als Sklaverei betrachtete“ (S. 260).
Friedan konnte nicht mehr, wie frühere Feministinnen, behaupten, dass Frauen in die „Sklaverei“ der Ehe gezwungen würden. Alle Berufe standen ihnen offen, wie sie zugab. Aber auf Hunderten von fachkundig recherchierten Seiten bot Friedan eine Erklärung für die katastrophale Entscheidung der Frauen für die Häuslichkeit: die unerbittliche Propaganda dessen, was sie das „Feminine Mystique“ (weiblicher/s Nimbus/Aura) nannte, die Gehirnwäsche der Frauen, die ihnen einredete, dass sie nur Hausfrauen und Mütter sein wollten, was Friedan zufolge tödlich langweilige Berufe waren, die bei vielen intelligenten und gebildeten Frauen das Gefühl der Leere und Seelenlosigkeit hinterließen.
Indem sie die marxistische Sprache von Sexsklaverei und Prostitution aktualisierte, behauptete Friedan 1963, dass das Vorstadthaus der modernen amerikanischen Frau „in Wirklichkeit ein komfortables Konzentrationslager“ (S. 369) sei, in dem Frauen „abhängig, passiv [und] kindlich“ geworden seien und Hausarbeit und Kinderbetreuung verrichteten, die „endlos, eintönig [und] undankbar“ seien (S. 369).  Sie räumte ein, dass die amerikanischen Frauen „natürlich nicht für die Massenvernichtung vorbereitet werden“, aber sie bestand darauf, dass sie „einen langsamen Tod des Verstandes und des Geistes erleiden“ (369), dem nur durch wirtschaftliche und sexuelle Unabhängigkeit abgeholfen werden könne, um „ihr eigenes Leben wieder nach einem selbstgewählten Ziel zu leben“ (S. 372). Ob die Arbeit der Männer erfüllend und befriedigend war – oder ob sie oft sogar „endlos, eintönig und undankbar“ war -, wurde von ihr natürlich nicht diskutiert.
Die frühe Feministin Mona Caird und die Anführerin der Zweiten Welle, Betty Friedan, beharrten auf den Rechten der Frauen und der Verantwortung der Männer, ihnen entgegenzukommen. Keine der beiden Kommentatorinnen schenkte den realen Erfahrungen oder Bedürfnissen von Männern – denen keine legitimen Bedürfnisse zugestanden wurden – noch denen der Kinder Aufmerksamkeit. Der Glaube an die überlegene Fähigkeit der Frauen, zu bestimmen, was für andere richtig ist, war immer ein unhinterfragter Grundsatz dessen, was wir als feministischen Nimbus bezeichnen könnten.
In Engels‘ Formulierungen zur Ehe im Kapitalismus sehen wir viele der Standardelemente der feministischen Position in ihrer selbstgerechten Einfachheit deutlich ausgeformt; dazu gehören die Idealisierung primitiverer, angeblich matriarchalischer Gesellschaftsstrukturen, Klagen über die Degradierung von Frauen als Sexsklavinnen der Männer, die Gleichsetzung der Ehe mit Prostitution oder anderen Formen der Seelenlosigkeit und die behauptete Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung, um Frauen sexuell zu stärken.
Marx und Engels waren nicht die ersten, die diese Ideen artikulierten, aber es besteht kein Zweifel daran, dass Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates die feministische Kritik zu einem Kernbestandteil des Kommunismus gemacht hat und dass ihr Einfluss auf das spätere feministische Denken tiefgreifend und dauerhaft war.

[i] [Anm. d. Übersetzers] Ich habe verlinkt zu der 5. deutschen Auflage und daraus zitiert, mit den ansprechenden Seitenangaben. (Nur sichtbar auf Desktop-PCs)
[ii] [Anm. d. Übersetzers] In Wikipedia auf Deutsch https://de.wikipedia.org/wiki/Lewis_Henry_Morgan

© Janice Fiamengo 2015-2023, alle Rechte vorbehalten, insbesondere aber nicht nur die des deutschen Urheberrechts. Vervielfältigung dieser Übersetzung nur nach Rücksprache mit mir (Tom Todd) oder der Autorin (Email an Janice Fiamengo) unter Nennung der Quelle (“Erschienen zuerst auf Geschlechterwelten.de”).
Übersetzung © tom todd

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